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Letztes Update:
15. Juli 2023 - 13:56

Mosaiksteinchen von weiblichen Schicksalen

„Bingo – Zuletzt entscheidet immer das Glück“ (Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric, D 2011)


Patente Frauen, „Landfrauen“ einer Generation, die heute im so genannten „Ruhestand“ ist, sind die Protagonistinnen in Gisela Tuchtenhagens und Margot Neubert-Marics Dokumentarfilm „Bingo – Zuletzt entscheidet immer das Glück“. Der Film stellt den Lebensalltag von fünf älteren Damen, die zwischen 65 und 75 Jahre alt sind, ausschnitthaft vor und lässt sie von ihrer Jugend und ihrer heutigen Situation erzählen. In einer Information der Filmproduktion zur Premiereneinladung ist davon die Rede, dass diese Frauen, die heute allein leben, ihr Leben jetzt selbst in die Hand genommen hätten. Doch wenn man Gisela, Christel, Elke, Helga und Emmi so vor der Kamera erlebt, scheint es eher glaubhaft, dass sie schon sehr lange ihr Leben selber bestimmen.

Alle fünf Frauen frönen einem Hobby oder, man könnte auch sagen, einer liebsten Freizeitbeschäftigung. Die Frage zu stellen, ob es sich bei einigen von ihnen schon um eine Sucht handelt, kommt den Filmemacherinnen (im Film jedenfalls) nicht in den Sinn. Fürs Bingospiel, das in kleinen „Hallen“ und größeren Gastwirtschaften gegen Einsatz von bis zu 35 Euro stattfindet und das mit Geldpreisen von bis zu 600 Euro (beim Superbingo) lockt, fahren sie hinter die deutsch-dänische Grenze, wo Geldpreise im Gegensatz zu Deutschland erlaubt sind. Gisela erzählt in Vorfreude auf das kommende Spiel, dass man mit dem Gedanken losfahren sollte, einen schönen Abend zu verbringen, der Erholung ist, und dass es sehr wohl sein könne, dass der Einsatz danach weg sei, „wie beim Lotto“. Und so beobachtet denn der Film die Frauen beim „dänischen“ Bingo, das vorwiegend von gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen gespielt wird.


Bingohalle in Dänemark (Still aus dem Film)
Fast meditativ und konzentriert zugleich wird der Ansage der Bingozahlen gelauscht und werden die entsprechenden Zahlenfelder auf den Bingokarten mit bunten Plastikchips abgedeckt. Nach einer verlorenen Runde macht sich die Anspannung nicht selten im freundlich ärgerlichen Lamentieren Luft. Manchmal gibt es auch einen kurzen triumphierenden Siegesschrei, die Zahlen werden vom Personal gecheckt und ein Sümmchen wird von den Damen souverän, gleichsam beiläufig in Empfang genommen. Man meint, eine gesellige, lose Gemeinschaft von eingefleischten „Spielerinnen“ auszumachen, die ihrer Leidenschaft bisweilen schon seit Jahrzehnten nachgehen und auch Bingo im heimatlichen Deutschland spielen, wo nur Preise wie z.B. Fleisch oder Wurstwaren zu gewinnen sind. Sie gehen auch zum Bingo aus Lust am Spiel, als Zeitvertreib, da ihnen manchmal jetzt im Alter zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Emmi meint: „Ich hab ja auch nicht anderes vor, dat macht Spass und wi sit nit vor de Fernseher. Und sparn för de Kinner? – Nee!“

Alltag und Spiel finden in einer Art ländlichem Frieden statt (und sind auch so mit ruhiger Hand gefilmt worden), der von außen betrachtet durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Und so erzählen die Frauen von einem gefassten Standpunkt aus mit gesättigter Lebenserfahrung anfangs fast nüchtern, doch dann mit zunehmender Intensität in Plattdeutsch (im Film hochdeutsch untertitelt) von ihrem Leben, von ihrer harten Lehrzeit im Nachkriegsdeutschland. Und wie sie ihre Männer kennen lernten und meist sehr jung heirateten. Alle fünf Frauen kommen aus finanziell bescheidenen Verhältnissen und mussten deshalb schon ziemlich früh harte Arbeit in landwirtschaftlichen Haushalten und Betrieben leisten. Mädchenträume wichen der Realität. Emmi wollte Modezeichnerin werden und arbeitete später als Schlachtereiverkäuferin. Die Zeiten waren nicht einfach für die heranwachsenden Frauen im Nachkriegsdeutschland und ihre soziale Abhängigkeit wurde bisweilen von ihren „Herrschaften“ (= Bauern) übermaßen strapaziert und ausgenutzt. An einen Bückling (geräucherter Hering) zum Abendbrot für zwei Abende weiß sich Emmi sarkastisch protestierend zu erinnern. Doch die Frauen bissen sich durch. Die Berlinerin Gisela lernte binnen kurzer Zeit Platt, denn als Alternative „to hus to fahren“ wollte sie nicht.


Helga und Emmi beim Bingo Spielen (Still aus dem Film)
So zeichnet der Film ruhig beobachtend und interessiert voll Empathie nachfragend Mosaiksteinchen von weiblichen Schicksalen nach. Vertrauensvoll doch nicht geschwätzig wird auch von den verstorbenen Ehemännern erzählt. Sie fehlen jetzt. Das merkt man. „Die Zeit heilt keine Wunden“, stellt Christel ruhig trauernd fest. Und in ihrem Gesicht meint der Betrachter mehr lesen zu können, als sie bereit ist, im Gespräch preiszugeben.

Der Film spielt in einer Gegend, die so ungewöhnliche Ortsnamen wie Witzwort oder Osterwittbekfeld zu bieten hat. Aber erzählt doch unspektakulär und unaufdringlich geduldig von einem Alltag mit kleinen Feiertagen, der auf den ersten Blick in seiner ländlichen Gelassenheit so normal zu sein scheint, dass man ihn glatt übersehen könnte. Bisweilen blitzt es auf im Geschehen. Z.B.: Draußen, vor den Fensterscheiben, pfeifen die Sylvesterraketen in den Winterhimmel, und drinnen sitzen die Damen mit Papphütchen kostümiert beim Bingo. Ein männlicher Bingonachbar zündet einen niedlichen Stubenböller. Der knallt dezent, kurz und trocken. Das ist typisch und leise komisch zugleich. Die Filmemacherinnen haben Geduld bewiesen, ihre Heldinnen und ihre Umgebung in allen Jahreszeiten beobachtet. Das zahlt sich aus für den Film, der geduldiges Hinschauen und Zuhören fordert und sich dann dem Betrachter öffnet. (Helmut Schulzeck)

„Bingo – Zuletzt entscheidet immer das Glück“. D 2011, 84 Min., Plattdeutsch mit deutschen Untertiteln. Buch und Regie: Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric, Kamera: Gisela Tuchtenhagen, Ton und Schnitt: Margot Neubert-Maric. Eine Bildschön Filmproduktion in Zusammenarbeit mit dem NDR. Gefördert von der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein und Nordmedia Fonds GmbH in Niedersachsen und Bremen.


Der Film feiert seine Premiere auf dem Hamburger Filmfest am Samstag, 1.10.2011, 17 Uhr im Abaton Kino (Großer Saal), Allendeplatz 3. (Weitere Vorstellung auf dem Hamburger Filmfest: Sonntag, 2.10.2011, 19 Uhr, PassageStudio, Mönckebergstr. 17)